Frühlingserwachen
Nie vergisst der Frühling wiederzukommen;
Wenn Störche ziehn, wenn Schwalben auf der Wiese sind,
Kaum ist dem Winter die Herrschaft genommen,
So erwacht und lächelt das goldene Kind.
Dann sucht er sein Spielzeug wieder zusammen,
Das der alte Winter verlegt und verstört,
Er putzt den Wald mit grünen Flammen,
Die Nachtigall er die Lieder lehrt.
Er rührt den Obstbaum mit rötlicher Hand,
Er klettert hinauf die Aprikosenwand,
Wie Schnee die Blüte noch vor dem Blatt ausdringt,
Er schüttelt froh das Köpfchen, dass ihm die Arbeit gelingt.
Dann geht er und schläft im waldigen Grund
Und haucht den Atem aus, den süßen;
Um seinen zarten roten Mund
Im Grase Viol´ und Erdbeer` sprießen.
Wie rötlich und bläulich lacht
Das Tal, wenn er erwacht!
In den verschloss´nen Garten
Steigt er über´s Gitter in Eil´,
Mag auf den Schlüssel nicht warten,
Ihm ist keine Wand zu steil.
Er räumt den Schnee aus dem Wege,
Er schneidet das Buchsbaumgehege,
Und feiert auch am Abend nicht,
Er schaufelt und arbeitet im Mondenlicht.
Dann ruft er: Wo säumen die Spielkameraden,
Daß sie so lang in der Erde bleiben?
Ich habe sie alle eingeladen,
Mit ihnen die fröhliche Zeit zu vertreiben.
Die Lilie kommt und reicht die weißen Finger,
Die Tulpe steht mit dickem Kopfputz da,
Die Rose tritt bescheiden nah,
Aurikelchen und alle Blumen, vornehm und geringer.
Dann küßt det Frühling die zarten Blumenwangen
Und scheidet und sagt: Ich muß nun gehn.
Da sterben sie alle an süßem Verlangen,
Daß sie mit welken Häuptern stehn.
Der Frühling spricht: “Vollendet ist mein Tun,
Ich habe schon die Schwalben herbestellt,
Sie tragen mich in eine and´re Welt,
Ich will in Indiens gefilden ruhn.
Ich bin zu klein, das Obst zu pflücken,
Den Stock der schweren Traube zu entkleiden;
Mit der Sense das goldene Korn zu schneiden;
Dazu will ich den Herbst euch schicken.
Ich liebe das Spielen, bin nur ein Kind
Und nicht zur ernsten Arbeit gesinnt;
Doch wenn ihr des Winters Überdrüssig seid,
Dann komm ich zurück zu eurer Freud´.
Ludwig Tieck, 1773-1853